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Die Legende vom Ulmer Spatz

Es war einmal in der Reichsstadt Ulm eine stolze Bürgerschaft, die wollte eine Kirche bauen. Schön und hoch sollte sie werden. Um das Dach zu stützen, benötigte der Baumeister lange Holzbalken. Er sandte seine Gehilfen aus der Stadt, um kräftiges Holz herbeizuholen. Und so machten sich diese auf den Weg.

Frohen Mutes schafften die Gehilfen Baumstämme herbei und stapelten sie quer auf einen Wagen. Wie sie damit nun die Stadtmauer passieren wollten, zeigte sich, dass das Tor in der Mauer viel zu schmal war. Die Balken standen auf beiden Seiten über. Die Gehilfen mühten sich und schoben den Wagen hin und her, doch es war vergeblich: Wenn die Balken links bündig zum Tor waren, standen sie rechts umso mehr über, und umgekehrt.

Die ganze Stadt geriet darüber in Aufruhr. Die Bürgerinnen und Bürger, die Stadträte und sogar der Bürgermeister - der eigentlich auf alles eine Antwort wusste - suchten nach einer Lösung. Doch etwas Ähnliches war noch nie jemandem widerfahren. Selbst in den schlauen Büchern fand sich kein Rat. Es schien nur eine Lösung zu geben: Das Tor abzureißen.

Als die Verwirrung gerade am größten war, flog ein kleiner Spatz über die Menge hinweg. Im Schnabel trug er einen golden schimmernden Getreidehalm. Mit diesem flatterte er an den Torbogen heran. Dort bot ein schmaler Spalt zwischen den Mauersteinen Platz für ein Nest. Um den Halm dort hineinzuschieben, drehte der findige Spatz ihn der Länge nach und schob ihn hinein.

Da ging den Ulmern ein Licht auf.

In Windeseile ergriffen sie die Holzbalken und legten sie diesmal nicht quer, sondern längs auf den Wagen. Dann wurde es still. Zögerlich setzte sich das Gefährt in Bewegung. Und siehe da: Elle um Elle, Stück um Stück rollte der Wagen geschmeidig durch das Tor hindurch.

Da geriet die Menge ins Jubeln. Die Menschen applaudierten dem Spatzen und schlossen ihn tief in ihre Herzen. Zum Dank errichtete man ihm später ein Denkmal auf dem Dach des Ulmer Münsters: die Figur eines Spatzen mit Halm im Schnabel. Und so wurde der Spatz zum inoffiziellen, dafür umso mehr geliebten Wahrzeichen der Stadt Ulm.

Die Volkssage vom Ulmer Spatz lässt sich schriftlich das erste Mal in einem Reisebericht von Carl Julius Weber aus dem Jahr 1826 nachweisen. Ausführlich beschrieben wird sie erstmals 1842 in einem Gedicht des Journalisten Carl Hertzog. Der Heimatforscher Otto Häcker und der Historiker Rudolf Biedermann haben die Ursprünge der Sage recherchiert und dabei auch nachgewiesen, dass sie im Laufe der Jahre immer wieder verändert wurde. In der obigen Version haben wir die Geschichte mit ihren zentralen Motiven frei nacherzählt.

Text: Marlene Müller