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Ulmer Schachtel

Eine Ulmer Schachtel vor der Donaufront

Neben dem Ulmer Münster und dem Ulmer Spatz gehört die „Ulmer Schachtel" zu den Markenzeichen der Stadt. Wer mit dem Begriff nichts anfangen kann: Er bezeichnet ein flaches Flussschiff, mit dem die Ulmer früher regen Handel getrieben haben.Heutzutage dienen die noch verbliebenen Exemplare jener Bootsgattung dazu, am Ulmer Nationalfeiertag, dem Schwörmontag, ein paar Dutzend Honoratioren vom Fischerplätzle zur Friedrichsau zu befördern. Im Übrigen befahren alljährlich fünf reisetaugliche Ulmer Schachteln – eine große und vier etwas kleinere – die Route von Ulm nach Wien oder sogar noch weiter und tragen dazu bei, die traditionsreichen Kontakte zu den Donauanrainern zu pflegen. Diese fröhlichen Rituale erinnern an einen einstmals blühenden Wirtschaftszweig, die ulmische Donauschifffahrt.

Eine Ulmer Schachtel vor dem Parlamentsgebäude in Budapest

Ulmer Schachtel vor dem Parlamentsgebäude in Budapest

Die Donau erhält bei Ulm durch den Zufluss von Iller und Blau eine neue Qualität: Sie wird schiffbar. Sie gehört daher zu den wichtigen Handelswegen, die sich schon früh in Ulm kreuzten. Trotz ihrer Tücken war sie immer noch leichter zu befahren als die in mehrfacher Hinsicht unsicheren Straßen. Dass dies schon früh geschah, ist der Marktordnung der österreichischen Donau-Stadt Enns zu entnehmen, die anno 1164 unter anderem auch Ulmer Fernhändler nennt. Dieses 1191 erneuerte Privileg vermittelt eine Vorstellung, was damals auf der Donau verschifft wurde: Tücher aus Europas Nordwesten, Häute, Pelze und Wachs aus Russland. Auch der Chronist Felix Fabri erwähnt 1488 die Wasserwege:

„Denn von der Iller erhält Ulm Holz, von der Donau verschiedene Waren, besonders jedoch Eisen von oben herab, und auf der Donau selbst schickt es seine Waren auch anderen Völkern zu."

Dies geschah damals noch auf Flößen. Zwar wurden auch Schiffe von Bayern donauaufwärts bis nach Ulm getreidelt, aber die Ulmer selbst besaßen damals noch keine Schiffe.

Das änderte sich im 16. Jahrhundert angesichts einer Verknappung der Holzbestände. Die veranlasste auch die Ulmer, sich nach einer ressourcensparenden Alternative zu den Flößen umzuschauen. Weinhändler aus der Fischerzunft holten daher aus Ingolstadt, Deggendorf und Windorf im heutigen Landkreis Passau „Schopper" – so heißen die Schiffbauer an der Donau – nach Ulm, wo sie 1570 die ersten großen Transportzillen bauten. Die waren damals schon 26 Meter lang und um die 4 Meter breit. Die Schiffbau- oder Schopperplätze lagen am heutigen Neu-Ulmer Ufer. Dort verrät heute ein Schild die Entfernung zur Donaumündung am Schwarzen Meer: 2 586 Kilometer. In Ulm heißen diese Wasserfahrzeuge „Zillen"; die großen Exemplare nach ihrem Zielort „Wiener Zillen".

Der heutige Name für die „Wiener Zillen" lautet bekanntlich „Ulmer Schachteln". Das aber war ursprünglich eine despektierliche Bezeichnung, die im Stuttgarter Landtag erfunden worden sein soll, um die ulmische Donauschifffahrt herabzuwürdigen. Deswegen regten sich noch vor wenigen Jahrzehnten die Ulmer Schiffleute und deren Nachfahren über den Begriff „Ulmer Schachtel" auf.

Gemälde einer Ulmer Schachtel auf der Donau

Wohl am verbreitetsten war die Bezeichnung „Ordinarischiff", die jedoch auf den Fahrplan Bezug nimmt: Diese Zillen fuhren „ordinari", also regelmäßig zu einem bestimmten Wochentag und zu genau definierten Tarifen nach Wien. Die Reise dauerte – je nach Wasserstand – 8 bis 14 Tage. Dieses „ordinari Wiener Schiff" hatte einen guten Ruf. Ein Reisender aus dem Jahr 1769 erklärt, warum:

Denn 1.) ging das Schiff alle Abend an Land, dass ich mithin bey Nacht mit aller Gemahlichkeit schlafen konnte,welches auf dem Postwagen nicht würde geschehen seyn.
2.) die Gefahr war so groß nicht, denn die Ulmer Schiffleute fahren so sicher, dass sie eher, wann sie eine Gefahr voraussehen, an dem nächsten Ufer anländen oder ganze Tage still liegen bleiben, als dass sie sich irgend einem Unglück aussetzen wollten; wie ich dieses mehrmals erfahren habe.

Die Bauart der Fahrgast-Zillen beschreibt dieser Tourist folgendermaßen:

Mitten auf den Ordinari-Schiffen steht ein kleines Haus, das von Brettern zusammengeschlagen und mit Brettern bedeckt ist. Dieses kleine Haus besteht ordentlicher Weise aus zwey Zimmern. In das Vordere kommen die Reysenden, so von einiger Distinction sind. Es hat im Winter gemeiniglich einen kleinen Ofen von Erden, der von außen eingeheizt wird. Auf jeglicher Seite des Zimmers ist ein kleines Fenstergen, wodurch man hinaus sehen kann. Zum Sitzen werden allenthalben Bretter umhergelegt. Unter diesen Bänken liegt die Bagage der Persohnen, so darinn sind. Ist noch Platz übrig, so legen die Schiffleute auch andere Päcke hinein, die dem Regen oder Schnee nicht ausgesetzt werden dürfen. Eben diese Bänke dienen dem Schiffmann bey Tag zum Tisch, worauf sie essen, was sie in dem kleinen Ofen gekocht haben, und bey Nacht zum Schlafen. In dem hinteren Zimmer ist das gemeine Volk. Es hat aber weder Ofen noch Fenster, noch viele Bänke; sondern die meisten, so darinnen sind, sitzen oder liegen auf den Kisten und Päcken herum, so die Schiffleute hineinlegen.

Neben den „Ordinari-" gab es die „Extra-Schiffe", das waren entweder reine Frachtschiffe oder „Herrschafts-Schiffe", die Vermögende mieteten. Das kostete Ende des 18. Jahrhunderts 100 bis 200 Gulden – das Hundertfache des Normal-Tarifs.

An Bord waren normalerweise etwa 40 Personen, doch mitunter auch mehr, beispielsweise auf den Auswanderer-Schiffen, die mit 100 bis 150 Personen nach Ungarn zogen. Der erste bekannte große Auswandererzug startete 1712 von Ulm donauabwärts in das von den Türken befreite Ungarn. 1786 bestiegen in drei Monaten um 3 000 Emigranten in Ulm die Schiffe.

Zu erwähnen sind auch die Truppentransporte auf der Donau. 1667 nahmen Ulmer Schiffleute erstmals ein schwäbisches Kreiskontingent von 2 500 Mann an Bord ihrer Schiffe und Flöße, das nach Ungarn ebenso gegen die Türken zog wie die Truppen, die 1683 und 1684 in Ulm eingeschifft wurden. Bemerkenswert war auch der Truppentransport, den 1758 der Herzog von Württemberg auf den Wasserweg brachte: Er umfasste 6 000 Mann, 150 Pferde, 226 Wagen auf 57 Schiffen und 70 Flößen.

Friedlicher war da doch die Flotte der 34 Schiffe, welche die Ulmer Schopper 1745 in knapp drei Wochen gebaut hatten: Es galt, das Kaiserpaar Franz I. und Maria Theresia, das sich auf der Rückreise von der Krönung in Frankfurt befand, samt Gefolge sicher nach Wien zu bringen.

Ulm von Osten, J.P. Fehr, 1795

© Stadt Ulm

Ulm von Osten, J.P. Fehr, 1795

Doch das war die Ausnahme. Die Regel waren die Warenströme, deren europäische Dimension 1781 der bekannte Deutschlandreisende Friedrich Nicolai beschrieb:

Die Donau dient hauptsächlich für die nach Bayern und Österreich bestimmten Güter, welche durch Fuhrleute aus Frankreich über Straßburg, aus Italien über Augsburg und sonst zur weiteren Spedition nach Ulm kommen. Das Haus Kindervatter hatte die größte Spedition für Güter und Gelder, die auf Rechnung des Kaisers aus den Niederlanden nach Wien gingen.

Die Fracht änderte sich mit den wechselnden Bedürfnissen. 1571 beispielsweise verzeichnete der Donaumautner von Straubing ein Jahresaufkommen von 22 000 Eimern Wein, die fast ausschließlich von Ulm kamen. Andere Fässer enthielten Ulmer Deckelschnecken.

Ulmer Leinwand, Erzeugnisse der Ulmer Wollweber, Birnenschnitze, Hutzeln, Rüben, Neckarwein, Ulmer Spielkarten und Oblaten waren frühe Transport-Schlager. Im 19. Jahrhundert waren es französische Weine, junge Bäume, Leder, Käse, Farbstoff, Feuersteine, Gras- und Kleesamen, hölzerne Uhren und andere „Güter des westlichen Europa", die so ihren Weg nach Österreich, Ungarn, Polen, Russland und in die Türkei fanden. Zum Schluss bestand die Hauptfracht aus Asphalt für den Straßenbau in den großen Donaustädten. Auch die Pflüge der Gebrüder Eberhardt rundeten neben Wagenschmiere, gesalzenen Därmen und Möbelfedern das Frachtgut ab. Die damaligen Bestimmungsorte waren, dem Gewicht der für sie bestimmten Fracht nach geordnet: Budapest, Wien, Passau, Regensburg, Straubing, Linz, Vilshofen, Ingolstadt, Neustadt und Deggendorf.

Der Schiffsverkehr donauaufwärts hingegen war nie sehr bedeutend. Schließlich mussten die Schiffszüge, die von Bayern nach Ulm kamen und daher „Bayerschiffe" oder „Hohenauer" hießen, von zehn bis zwölf Pferden gezogen werden. Sie brachten um 1825 ungarisches Kupfer, Tabaksblätter, Weine, Zwirn aus Linz, Rosshaar aus Bayern, Schweinsborsten aus Polen und Russland, böhmischen Schwamm, Quecksilber und Passauer Schmelztigel.

Der Konkurrenz der Eisenbahn konnte die Donauschiff-fahrt auf Dauer nicht trotzen. Auch Versuche, die Donau-Dampfschifffahrt bis nach Ulm zu betreiben, liefen gewissermaßen auf Grund. Und so legte 1897 die letzte gewerbliche Wiener Zille in Ulm ab.

Damit geriet dieses Wasserfahrzeug jedoch keineswegs in Vergessenheit. Es war bereits zu einem Ulmer Symbolgeworden – wozu sicher auch die charakteristischen schwarz-weißen Streifen an der Bordwand beigetragen hatten. Denn die wurden schon im 19. Jahrhundert als die Ulmer Stadtfarben Schwarz-Weiß interpretiert. Doch nur in Ulm sind auf der Donau Zillen aller Größenordnungen mit Streifen aus schwarzer Teerfarbe verziert worden, das zu dem natürlichen Weiß des Tannenholzes kontrastierte – vermutlich sollte dieses auffällige Muster der besseren Sichtbarkeit und somit der Sicherheit dienen.

Ulmer Schachtel vor dem Bundestag in Berlin

Ulmer Schachtel vor dem Bundestag in Berlin

Bereits zehn Jahre nach Ende der gewerblichen Ulmer Donauschifffahrt begann eine neue Art der ulmischen Donaufahrten, eine frühe Form des Tourismus. Gruppen von Reiselustigen besorgten sich ausrangierte Kieszillen und fuhren darauf unter kundiger Anleitung der Ulmer Schiffleute bis nach Wien. In dieser Zeit erhielten die Schachteln, deren Aufbauten ursprünglich hüttenartig waren, ihre heutige Form mit dem begehbaren Flachdach, welcher tatsächlich etwas Schachtelhaftes anhaftet. Allerdings war der Schöpfer dieses neuen Schachteltypus kein Ulmer, sondern ein Berliner Professor namens Eduard Hahn, der 1907 zu Forschungszwecken auf einem solchen Schiff von Ulm nach Wien fuhr.

Der Ulmer Verein für den Fremdenverkehr hat diese Form übernommen, als er 1914 zum ersten Mal eine Schachtelfahrt organisierte, die neben dem Reisevergnügen auch die Traditions- und Kontaktpflege entlang der Donau zum Ziel hatte. Diese planmäßigen Schachtelfahrten hatten zur Folge, dass die Schiffe etwas komfortabler gebaut gestaltet wurden.

Und so wurde aus dem Einmalfahrzeug, welches bis dahin am Ziel seiner Reise vom „Plättenschinder" zu Brennholz zerlegt wurde, ein Mehrwegschiff, das seit 1925 zunächst per Bahn und heute per Tieflader nach Ulm zurückbefördert wird. Seit 1926 werden die Ulmer Schachteln zudem von Motoren angetrieben, was heute gar nicht mehr anders ginge. Denn im 20. Jahrhundert hat die Obere Donau zahlreiche Staustufen erhalten, welche die Fließgeschwindigkeit verlangsamen und die jede mit einer Schleuse überwunden werden muss. Die Kraft, die dem Fluss entzogen wird, muss dem Schiff daher wieder zugeführt werden.

Form und Bauweise der Ulmer Schachtel hat sich also stark verändert – nicht aber ihr Symbolgehalt: Sie steht nicht allein für Nostalgie, sondern nicht minder für die Weltoffenheit, welche die Ulmer aus guten historischen Gründen für sich reklamieren.