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Das Ulmer Fischerstechen

Der Kuhirt (rechts), Sieger des Fischerstechens 2022, sticht seinen Konkurrenten vom Boot.

© City of Ulm

Das traditionelle Ulmer Fischerstechen findet alle vier Jahre statt, das nächste Mal am 13. und 20. Juli 2025.

Aufgrund der Corona-Pandemie war das letzte Stechen um ein Jahr verschoben worden. Fotos und Berichte vom Fischerstechen 2022 finden Sie hier:
Der erste Tag des Ulmer Fischerstechens 2022
Der zweite Tag des Ulmer Fischerstechens 2022

 Zwei Stecher, die auf jeweils einem Boot gegeneinander antreten, versuchen, den anderen mit einem gepolsterten Speer ins Wasser zu stoßen.

Die Tambours in ihren roten Röcken rühren die Trommeln. Von beiden Ufern der Donau stoßen die Stecher-Zillen ab. Jeweils drei Fahrer lenken die Boote aufeinander zu. Auf deren Heck stehen die Stecher, gestützt auf ihre 2,80 Meter langen Lanzen, "Speere" genannt. Wenn die Zillen einander begegnen, heben die Kombattanten ihre Speere an, stemmen das Querholz gegen die Schultern und zielen mit dem ledergepolsterten Knauf an der Spitze auf die Brust des Gegners. Die Speere prallen auf die Rippen. Wer ins Wasser fällt, hat verloren. Wer ins Boot tritt, gilt ebenfalls als "nass". Der Stecher, der stehen bleibt, ist "trocken" geblieben, hat gesiegt und kommt in die nächste Runde. Sind beide trocken, endet die Runde unentschieden. Die Regeln sind einfach. Es wird so lange gestochen, bis einer gewonnen hat.

Ein Stecher in der Figur der "Schwanenwirtin" fährt mit seinem Speer auf dem Boot seinem Kontrahenten entgegen.

Das Programm weist die Paare aus als "Weißfischer", als Narren, Bauer und Bäuerin, Ulmer Spatz, als Schneider von Ulm usw. In diesen Figuren spiegeln sich die Geschichte des Fischerstechens, der Zeitgeist verschiedener Epochen und schließlich Ulmer Geschichte und Geschichten wider. Die "Weißfischer" sind nach den weißen Gewändern bezeichnet, in denen sie zum Turnier antreten. Es gibt noch die Variante des "Weißfischers im Festanzug", dessen Rock rot ist. Die Tracht der Weißfischer weist möglicherweise auf die Ursprünge des Stechens zurück, nämlich auf die Fastnacht der frühen Neuzeit. Denn die Gesellenschaften verschiedener Handwerke bevorzugten für ihre fastnächtlichen Brauchübungen weiße Kleidung. Damals pflegten - nicht nur in Ulm und nicht nur in der Berufsgruppe der Fischer - Handwerksgesellen die Reiterspiele der Ritter auf ihre Weise nachzuahmen.

So haben, einer launigen Lokalsage zufolge, zwei Ulmer Fischer namens Käßbohrer und Molfenter ein Ritter-Turnier beobachtet, das die in Ulm ansässigen Mönche des Klosters Reichenau veranstalteten. Die beiden Betrachter kamen zu dem Ergebnis, dass sie das eigentlich auch könnten, wobei sie dann in Ermangelung der für derartige Treffen notwendigen Rösser mit ihren Zillen gegeneinander anrannten.

So ähnlich könnte es sich tatsächlich abgespielt haben. Die ersten Zeugnisse für das Ulmer Fischerstechen sind aus dem 16. Jahrhundert überliefert: Am 20. Februar 1545 hat der Rat einen Antrag auf ein Fischerstechen abgelehnt. Der entsprechende Eintrag ins Ratsprotokoll ist der älteste Hinweis auf die Ausübung dieses Brauchs in Ulm.

Auch Bauer und Bäuerin sowie das Narrenpaar sind Gestalten aus der frühneuzeitlichen städtischen Fastnacht. Für die Städter waren die Bauern der Inbegriff der Tölpelhaftigkeit. Die Figuren dürften auf die Anfänge des Stechens zurückgehen.

Nachdem die Ulmer aufgehört hatten, Fastnacht zu feiern (kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg), nötigte der Rat die Fischergesellen, ihr Stechen in die wärmere Jahreszeit zu verlegen. So wurde es schließlich am Montag nach der ulmischen Kirchweih in der letzten Juliwoche ausgeübt. Doch noch im 17. Jahrhundert wanderte es von diesem Datum weiter auf den "Schwördienstag". Das war der Tag, der dem jährlichen Schwörtag folgte, dem höchsten politischen Festtag der Stadt: Am Montag nach den jährlichen Ratswahlen Anfang August schwor die erwachsene männliche Bevölkerung ihren Eid auf die reichsstädtische Verfassung. Anschließend wurde heftig gefeiert, nun erhöhte am Tag danach das Fischerstechen alle zwei Jahre den festlichen Charakter dieses Ereignisses.

Als Ulm 1802 seinen Status als Reichsstadt verlor und bayerisch wurde, war dem Schwörtag die Grundlage entzogen und damit auch dem Anlass, an den das Fischerstechen geknüpft war. Es musste anschließend erst wiederentdeckt werden, wozu die nationale Bewegung des 19. Jahrhunderts mit ihrer Mittelalter-Nostalgie maßgeblich beitrug. In diesen Zusammenhang gehört die romantische Freiheits-Begeisterung, die auch im Fischerstechen vielerlei Gestalt fand. Einziges Überbleibsel ist Wilhelm Tell, der seit 1832 am Stechen teilnimmt und damit zu den Senioren unter den Figuren zählt. Landvogt Geßler kam erst 1855 hinzu.

Mit dem Fischerstechen gedachten die Schiffleute im 19. Jahrhundert gelegentlich des verlorengegangnen Schwörtages. Weitere Anlässe boten königliche Besuche, boten Tagungen und Treffen. 

Schon von Anfang an hatten die Ulmer den folkloristischen Reiz erkannt, den das Stechen auch auf hohe Gäste der Stadt ausübte. So hängt die zweite Nachricht, die von einem Ulmer Fischerstechen vorliegt, mit dem Besuch des Prinzen Philipp von Spanien anno 1549 zusammen: Ihm zu Ehren stachen die Fischer, bevor sie ein paar Tage später zu ihrem regulären Fastnachts-Turnier antraten.

Auch an den großen Stadtfesten darf und durfte das Fischerstechen nicht fehlen und schon gleich gar nicht bei den großen historischen Umzügen, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte. Ein solcher wurde 1877 anlässlich des 500. Jahrestags der Grundsteinlegung zum Münster inszeniert. Dieses Ereignis bescherte dem Stechen einige neue Figuren. Seither nähern sich Faust und Mephisto einander als schwankende Gestalten auf der Donau. Und als schwäbisch-volkstümliches Gegensatzpaar wurden damals Ober- und Unterländer neu eingeführt.

Seit 1877 sind auch Figuren aus der lokalen Überlieferung vertreten, etwa der Ulmer Spatz und der Schneider von Ulm. Der Schneidermeister und Flugpionier Albrecht Ludwig Berblinger ist zur Spottfigur geworden, als sein Versuch, am 31. Mai 1811 die Donau mit einem durchaus flugtauglichen Gerät zu überqueren, scheiterte.

Die Vollendung des Münsterbaus im Jahr 1890 bot erneut Anlass für ein Fischerstechen, das nun um "Kuhhirt und Ratsherr" bereichert wurde: Weil der städtische Kuhhirt im Dienst betrunken war, wollte der Rat ihn entlassen. Der Hirt belauschte die Beratung durch das Ofenloch und kam der Entlassung zuvor, indem er selber via Heizkanal seine Kündigung aussprach.

Im 20. Jahrhundert entdeckte zunächst der Fremdenverkehr das Fischerstechen, und in den 30er Jahren schlachteten es die Nationalsozialisten für ihre Blut- und Boden-Ideologie aus. Sie verbanden beispielsweise Schwabentümelei und Antisemitismus in dem Figurenpaar "jüdischer Hypothekenvermittler" contra "schwäbisches Bäuerlein von der Alb".

Der „Krätten-Weber“ beißt in eine Gurke.

© City of Ulm

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der ständig variierende Figuren-Kanon um weitere bleibende Paare bereichert. 1950 kam das Erfolgspaar "Krätten-Weber und Bollezei" (= Polizei) hinzu. Der 1920 verstorbene Jakob Weber war ein für seine Grobheit berühmter Ulmer Gemüse- und Antiquitäten-Händler, der seine Ware in einem Korb, (= Krätten) mit sich zu führen pflegte. Besonders gerne beschimpfte er die Ordnungshüter.

Ebenfalls 1950 wurden historische Figuren eingeführt: Karl V. und Moritz von Sachsen. Die hatten sich im Markgrafenkrieg von 1552 feindlich gegenüber gestanden, als Ulm auf der Seite Karls V. stand. 1954 wuchs die Stechertruppe erneut um zwei Kriegsherren, deren Wirken unter anderem auch das Schicksal Ulms beeinflusst hat: Wallenstein und zunächst Bernhard von Weimar. Doch der wurde 1970 durch den bekannteren Gustav Adolf ersetzt.

"Türkenlouis" (Markgraf Ludwig Wilhelm I. von Baden) und Großwesir (Mustafa Koprülü) erinnern seit 1958 an die Türkenkriege des späten 17. Jahrhunderts. Von Ulm aus wurden mit Hilfe der Ulmer Schiffleute Militärkontingente die Donau hinab zu den Schlachtfeldern transportiert.

Eine echte Ulmerin unter den Stecher-Figuren ist die Schwanenwirtin Sabina Heilbronnerin. Sie bot feindlichen bayerischen Offizieren Paroli, als diese 1703 im besetzten Ulm, genauer gesagt: im Gasthaus zum Schwanen, ihren Kurfürsten Max-Emanuel hochleben ließen. Die Wirtin trotzte mit "Vivat Leopoldus" - das war ihr Kaiser -, und sticht seit 1970 gegen Max Emanuel. Seither hat sich an dem Figuren-Reigen nicht mehr viel geändert, sieht man von den "Überraschungs-Paaren" ab, die aktuelle Themen verkörpern.

Seit 1950 wird das Ulmer Fischerstechen alle vier Jahre ausgetragen, falls keine wichtigen Ereignisse oder Jubiläen diesen Rhythmus unterbrechen. Als Termine für das Stechen haben sich inzwischen die beiden Sonntage vor dem Schwörmontag eingebürgert, und der Schwörmontag ist der vorletzte Montag des Juli.

Weißfischer, Fischermädchen und weitere Kostümierte ziehen und tanzen durch die Ulmer Innenstadt.

© City of Ulm

Das Ulmer Fischerstechen wäre unvollständig beschrieben ohne den vormittäglichen Festzug. Vormittags gegen 10 Uhr sammeln sich die etwa 300 Teilnehmer in ihren vielfarbigen Kostümen auf dem Saumarkt im Fischerviertel. Dort führen das Narrenpaar nebst Bauer und Bäuerin - die Dame wird von einem Mann gemimt - zum ersten Mal ihren Tanz auf, der dem Fastnachtsbrauchtum der frühen Neuzeit entstammen dürfte. Die Musik besteht ausschließlich in Trommelbegleitung; die schlichte Handlung des Tanzes bestätigt die frühere städtische Arroganz gegenüber den Landbewohnern: Die raffinierten, urbanen Narren spannen dem Bauern seine Bäuerin aus, was den, als er es endlich merkt, stark erregt.

Jüngeren Datums, von 1950, ist das Menuett, das von speerbewehrten Fischern im roten Festrock und von Fischermädchen in ihrer Tracht nach einer traditionellen Ulmer Weise getanzt wird.

Der Zug setzt sich in Bewegung. Voraus reiten Ulmische Freireiter in blauen Uniformen aus dem Jahr 1693. Imposant sind die paukenden und trompetenden Ulmischen Gens d'armes hoch zu Ross in ihren roten Röcken aus dem Jahr 1745. Die Blaskapellen tragen die blauen Uniformen der Ulmer Stadtsoldaten. Das Outfit stammt aus der Zeit um 1770/1780. Die Tambours, die vormittags die Narrentänze und nachmittags das Stechen begleiten, sind in die Monturen der Ulmischen Stuck-Kompanie (um 1740) gewandet.

Zu den traditionellen Bestandteilen des Umzugs, der ursprünglich dem Sammeln von Gaben diente, gehören die eigens dazu hergerichteten Gabenspeere. Sie sind oben mit Haken versehen, damit die Bewohner der am Wege liegenden Häuser auch von den oberen Stockwerken aus Geschenke an die Speere hängen können.

Im Zug marschieren weitere Mitglieder der Fischerzunft bzw. ihrer leiblichen Nachfahren mit, die im Schifferverein zusammengeschlossen sind. Dem barock gewandeten Zunftmeister folgt die Zunft in ihrer Vielfalt: Fischermädchen ("Kirchweih-Jungfern"), Jungfischer, Kindergruppe und, als krönender Abschluss, die Fischerfrauen. Von denen darf eine Auswahl auf dem mit Pferden gezogenen "Prunkschiff" mitfahren.

Bei diesem Umzug geht es ebenso wenig trocken zu wie nachmittags beim Stechen, nur dass die Befeuchtung innerlich erfolgt. Doch das steigert den Mut für das nachmittägliche Turnier und erwärmt das Blut für den Sturz in die auch im Sommer etwas unterkühlte Donau.

Text: Wolf-Henning Petershagen